Die 1906 für den Hamburger Reeder Erich F. Laeisz gebaute „Pirat II“ ist eine der letzten original erhaltenen Segellängen-Rennyachten und gibt bis heute Einblicke in die Anfänge unseres Sports
Knallgrün funkelt das Wasser des Bodensees unter dem naturlackierten Rumpf einer Nautiquität, die selbst eingefleischte Klassiker-Freunde ad hoc nicht richtig zuordnen könnten, wenn sie gefragt würden. Hier im Hafen von Altnau am Schweizer Bodenseeufer ohnehin nicht. Vollständig unter einer Persenning versteckt, aus der nur ein kurzer Mast und der über das Heck reichende Baum ragen, würden sie vielleicht sogar daran vorbeilaufen. Wenn Holzbootsbauer Stefan Züst, bei dem das Gefährt in Pflege ist, das Tuch jedoch abdeckt, mit Hand und Stechpaddel aus der Box und dem Hafen manövriert und mit Piek- und Klaufall das gewaltige Gaffelsegel setzt, kämen sicher Fragen auf. Eine Sonderklasse en miniature vielleicht?
Nein, was hier authentisch erhalten in die Anfänge des deutschen Segelsports entführt, ist eine sogenannte 6-Segellängen-Rennyacht, die 1906 in der „Boot & Yachtbauerei W. v. Hacht“ für den Hamburger Reeder Erich F. Laeisz gebaut wurde. Der taufte das Boot, wie seine Frachtklipper wie „Pamir“ oder „Passat“ auch, auf einen mit „P“ beginnenden Namen. Bis heute steht „Pirat II“ noch am Heckspiegel.
Anders als die Klassenbezeichnung es vermuten lässt, misst die antike Regattayacht neun Meter in der Länge, ist dabei nur 1,73 Meter breit und war einst so filigran gebaut, dass sie trotz ihrer 400 Kilogramm Ballast im Kiel nur 940 Kilogramm wog und damit mehr Instrument war als Schiff – und doch so solide, dass „Pirat II“ die eine Rennsaison, für die sie geschaffen wurde, um weit mehr als 100 Jahre überlebte.
Züst hat das hinter einem kurzen Kiel frei stehende Ruder an der aus dem Achterdeck ragenden Pinne fest im Griff. Er nimmt die Großschot dicht, verlagert das Gewicht seines massigen Oberkörpers nach Luv, als das Boot sich auf die Seite legt, und fängt unvermittelt an, so laut zu lachen, dass man nicht recht sagen kann, ob der Rumpf vom Zusammenspiel aus Segeldruck und dem sich immer schneller an der Bordwand entlangbewegendem Wasser oder vom dröhnenden Bass des Eidgenossen vibriert. „Ein Laser ist ein plumpes Teil dagegen“, sagt er, grient im Kreis und erzählt von der ungewöhnlichen Nahtspant-Bauweise, die ihn an klassische Rennruderboote erinnert.
Züst muss es wissen. Der Hüne betreibt im Ort eine Werft, auf der Neubauten aus Holz entstehen und rund 100 Yachten ihre alljährliche Pflege erhalten. Die allermeisten sind traditionell gebaut, und nicht selten werden Restaurierungsarbeiten an der Struktur dieser Patienten fällig.
Und an den Innereien offenbart sich auch das Besondere an der Bauweise dieser 6-Segellängen-Rennyacht. Die Erfindung des sogenannten Nahtspant-Systems wird dem großen deutschen Konstrukteur Max Oertz zugeschrieben. Der erläuterte es 1901 in seinem Vortrag „Über Segelyachten und ihre moderne Ausführung“ vor der Schiffbautechnischen Gesellschaft:„Für den Bau von Rennyachten bis zur Größe von 12 m Wasserlinienlänge hat sich das Nahtspantsystem hervorragend bewährt. Die Längsnähte der Planken sind auf den hochkant stehenden eichenen Nahtspanten dicht vernagelt und vernietet. Man erhält so außerordentlich feste und elastische Boote, während die Gewichtsersparnis am Rumpfe es ermöglicht, 60 bis 64 % des Deplacements als Ballast in den Kiel zu geben.“
Nur einmal seit ihrem Stapellauf wurde die kleine Rennyacht umfassend restauriert. Das war in den Jahren 1989 bis 1994.
Der erste Sommer sah das Boot mit dem segelbegeisterten Reeder Laeisz an Pinne und Schot am Start aller entscheidenden Regatten auf den norddeutschen Gewässern. In den Zeitschriften „Wassersport“ und YACHT fehlt sie in keiner Ergebnisliste, meist ist ihr Name auf den vorderen Plätzen der „Rennklasse VI“ zu finden. Vor allem die Teilnahme an der berühmten Kieler Woche von 1906 mag Laeisz dazu motiviert haben, das Boot in Auftrag zu geben. Sie war vom Kaiser als Länderwettkampf zwischen England und Deutschland intendiert worden. Und in Norddeutschland war daraufhin eine nie gesehene Neubautätigkeit ausgebrochen. Auf manchen Werften wurden bis zu einem Dutzend Segellängen-Yachten gleichzeitig auf Kiel gelegt. Wer auf der Bahn mithalten wollte, der konnte sich dem Boom nicht entziehen.
Der 1870 geborene Wilhelm von Hacht, genannt Willy, erfreute sich zu diesem Zeitpunkt bereits eines exzellenten Rufes bei den gut betuchten Herrenseglern. Er hatte schon als 14-Jähriger sein Handwerk erlernt und anschließend auf der Werft des Großvaters als Geselle gearbeitet, die er dann 19-jährig nach dessen Tod im Jahr 1889 weiterführte und 1895 auf eigene Rechnung übernahm.
Unter dem Großvater war von Hacht eine Reparaturwerft für kleinere Berufsfahrzeuge an einem Nebenarm der Außenalster. Willy von Hacht jedoch stellte sich auf den an der Alster immer stärker gefragten Bau von Sportfahrzeugen ein und fertigte Ruder- und Segelboote. Er hatte schnell Erfolg damit, avancierte zur gefragten Adresse für Regattayachten, die er selbst konstruierte, und vergrößerte den Betrieb 1907.
„Es gibt nur wenige Klassen des Deutschen Seglerverbandes, in denen Hacht nicht auch in den letzten Jahren hervorragende sieggewohnte Fahrzeuge gebaut hätte“, beschrieb die YACHT 1925 den Erfolg v. Hachts anlässlich seines 30. Berufsjubiläums. „In der 30-qm-Klasse kämpfte er in den letzten Jahren ständig mit Rasmussen und Estlander um die Führung.“
In seiner Kundenkartei fanden sich bis zum Tode v. Hachts im Jahr 1931 bekannte Namen. Denn schon bald nach seinem Debüt vertrauten ihm sowohl die erfolgreichen Segler aus dem Norddeutschen Regatta Verein, in dem er auch Aufnahme fand, als auch wohlhabende Kaufleute oder die segelnden Preußen-Prinzen. Und eben auch Erich F. Laeisz.
Der jedoch trennte sich gleich nach dem ersten Sommer von seiner 6-Segellängen-Rennyacht. Es ist die Übergangszeit zur internationalen Meterformel, die fortan das Regattageschehen dominiert, und die meisten der nach dem Segellängen-Verfahren vermessenen Rennyachten werden in den Süden verkauft. Sie finden sich, umgeriggt und neu vermessen, mit einem D im Segel am Start der 35-qm-Rennklasse wieder.
„Pirat II“ geht 1907 auf die Reise in den Süden und ist auf Traunsee, Wörthersee, Mondsee und Zürichsee beheimatet, bis der gelernte Holzbootsbauer Karl Dietrich sie 1989 erwirbt und zusammen mit seinem Freund und Mitsegler Klaus Vamberszky in einer fünf Jahre dauernden Radikalkur in den heutigen Zustand restauriert und anschließend auf dem Bodensee segelt.
Dietrich erinnert sich noch gern an diese Zeit zurück, auch wenn sie die Männer mehr als 3.000 Stunden harter Arbeit gekostet hat. „Wir standen ehrfürchtig davor und haben uns gefragt, wie v. Hacht das damals gebaut hat“, sagt er rückblickend, denn die dünnen, eingebogenen Spanten sind in die mit der Außenhautbeplankung fest vernagelten Nahtspanten eingelassen, was darüber rätseln lässt, in welcher Reihenfolge das Puzzle einst zusammengesetzt wurde.
„Noch nach 80 Jahren war das so fest zusammengefügt, dass sich nirgends ein Spalt zeigte“, sagt Dietrich, der die Arbeiten fotografisch dokumentierte, was zu Analog-Zeiten noch eher die Ausnahme war.
Die alten Aufnahmen zeigen ein Rumpfskelett, zu dem neben den zwischen Spanten und Rumpf verlaufenden, stringerartigen Nahtspanten auch Kompositbauteile aus verzinktem Stahl gehören – Bodenwrangen, Knie und sogar Rundspanten. Die Planken der Außenhaut aber, so Dietrich, seien lediglich sechs Millimeter stark gewesen, was wenig mehr ist als ein Stark-Furnier. Ihnen sei es bei der Restaurierung weniger um den Erhalt des geringen Gewichts gegangen, sagt er, lacht und beschreibt, wie sie nur wenige rotte Teile wie den Kielbalken ausgewechselt und anschließend mit Epoxidharz zwei Lagen à zwei Millimeter Mahagoni-Furnier diagonal auf den Rumpf aufgebracht hätten, um ihm dauerhaft Festigkeit zu verleihen. Darunter verbirgt sich, von innen offen einsehbar, die Originalsubstanz und strahlt die Authentizität der Anfangsjahre aus, als auf der hohen Kante noch Herren mit Vatermörder, Krawatte und Prinz-Heinrich-Mütze saßen.
Damit auch das äußere Erscheinungsbild dem nicht nachsteht, bringen Dietrich und Vamberszky im anschließend naturlackierten Überwasserbereich Planken in Längsrichtung auf, die in Abmessung und Verlauf dem Original-Erscheinungsbild entsprechen. Natürlich aus Zeder.
Den Kiel gießen die Freunde kurzerhand neu. Dass der alte noch dran war, sei ohnehin ein Wunder, so Dietrich. „Das Totholz aus Eiche hat mit seiner Gerbsäure die verzinkten Stahlbolzen angegriffen, sodass die teilweise auf null runter waren“, sagt er und zeigt ein Bild des neuen Kiels, in den ein Gerüst aus Edelstahl eingegossen wurde, das in massiven Kielbolzen endet.
Auch das Deck sei nicht zu retten gewesen. Der Eigner entscheidet sich für eins aus Sperrholz und bezieht es, wie Hacht das früher auch schon machte, mit Leinen. Ein ungeheurer Aufwand. Allein der Neubau der formverleimten Süllränder habe ihn 200 Stunden gekostet, so Dietrich.
Die Segelei hingegen entschädigt für alle Mühsal. Die wie neu aussehende Rennyacht fährt nach 90 Jahren wieder Preise ein, auch wenn sie nach der Radikalkur rund 300 Kilogramm mehr verdrängt. „Wir hatten einen Yardstickwert, der ungefähr beim Lacustre lag, das war für uns eigentlich zu günstig, aber das hat uns nicht weiter gestört“, sagt Ex-Eigner Dietrich und lacht erneut.
Es ist nach dem Wechsel in die 35-qm-Rennklasse und zu einer Zeit, in der die frühere 6-SL-Yacht als Ausgleicher vermessen wurde, das vierte Verfahren, nach dem „Pirat II“ einen Rennwert bekommt, mit dem auf ihr um die Wette gesegelt werden kann. Das erste, das Segellängen-Messverfahren, geht ganz bis auf das Jahr 1898 zurück. Max Oertz beschreibt es im erwähnten Vortrag so:
„In Deutschland sind wir nach vielen Versuchen und Enttäuschungen zu einer Formel gelangt, welche auf die Entwicklungen der Yachttypen von recht günstigem Einflusse gewesen ist.“ Der Konstrukteur erläutert die Berechnung des Rennwertes R, der aus Wasserlinienlänge, Segelfläche und Umfang des Unterwasserschiffes durch je eine Formel für Rennyachten und eine für Kreuzeryachten errechnet wird. „Wir sehen, wir haben in Deutschland durch eine besondere Formel einen strengen Unterschied gemacht zwischen Kreuzeryachten und Rennyachten, eine Maßnahme, mit welcher Deutschland einzig dasteht. Während die Rennyacht auf Erreichung größtmöglicher Geschwindigkeit abzielt, ohne Rücksicht auf Komfort unter und auf Deck, und oftmals jongleurartige Akrobatengewandtheit der Segler erfordert, soll der Kreuzer neben guter Geschwindigkeit vor allem durch seine Form seetüchtig sein …“, so Oertz.
Im Jahr 1906 entstand die internationale Meterformel. In Deutschland wurde sie auf dem Seglertag des darauffolgenden Jahres angenommen. Gleichzeitig schaffte man das nationale Messverfahren nach der Segellängen-Formel ab.
Der Sommer 1907 war der letzte, der Neubauten nach dieser relativ einfachen Formel und ohne jegliche Bauvorschriften hervorbrachte. Im Süden, insbesondere auf den österreichischen Seen, jedoch waren die Boote sehr gefragt, wurden bis in die 1930er Jahre aktiv auf Regatten gesegelt und erwiesen sich als äußerst langlebig.
Nachdem Karl Dietrich und Klaus Vamberszky die Rennyacht restauriert hatten, ging sie 2000 noch an einen Eigner am Bodensee, kam erneut an den Zürichsee und von dort nun zurück nach Altnau, wo Stefan Züst sie pflegt. Der verpasste ihr zuletzt einen neuen Mast aus Spruce und widmete sich der Beschlagsanordnung, „… weil man das mit den alten Blöcken und Umlenkungen kaum segeln konnte!“ In der Tat, die lediglich auf Groß und Fock verteilte Segelfläche von fast 50 Quadratmetern flößt durchaus Respekt ein. Und während hier auf dem Bodensee eine leichte Brise schon für gute Beschäftigung sorgt, kommt leise die Frage auf, wie das damals wohl die Herren in Schlips und Kragen an windreichen Tagen auf der Kieler Förde im Regatta-Modus gehandhabt haben.
Selbst bei wenig Wind ist Aufmerksamkeit gefragt, sogar wenn das Boot auf raumen Kurs abfällt, weil dann der gewaltige Großbaum mit seinem Gewicht einen solchen Leetrimm verursacht, dass die Nock recht schnell durchs Wasser schleift.
Für Rudergänger Züst ist das heute aber kein Problem. Ein wenig weiter nach außen gelehnt, schon kommt die Bremse aus dem knallgrünen Wasser, und „Pirat II“ nimmt unter dröhnendem Lachen Fahrt auf. Und wieder ist nicht klar, warum der Rumpf ganz sachte vibriert.
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